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Theorie


Lebensweltorientierte Soziale Arbeit 

In diesem Kapitel möchte ich dem Leser den Lebensweltorientierten Ansatz in der Sozialen Arbeit näher bringen. Meiner Meinung nach wird dieser Ansatz in unserer täglichen Arbeit mit dem Klienten zu wenig genutzt. Mit einzelnen, zum Teil provokativen Zitaten möchte ich den Blick auf wesentliche Haltungen und grundsätzlichen Annahmen aber auch Probleme in der Anwendung des Lebenswelt-orientierten Ansatzes richten.

Hier eine kurze Umschreibung, was unter Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit zu verstehen ist:

Grunwald, K./Tiersch, H. (2004, Buchdeckel)
„Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zielt auf eine Soziale Arbeit, die Menschen in ihren Verhält-nissen, in ihren Ressourcen, ihren vorenthaltenen Partizipationschancen und ihren Schwierigkeiten des Alltags sieht. Sie sucht den Menschen im Medium ihrer erlebten Erfahrungen, Deutungs- und Handlungsmustern durch Unterstützung, Provokation und die Arbeit an Alternativen zu besseren Verhältnissen und tragfähigeren Kompetenzen zu verhelfen. Lebensweltorientierte Sozial Arbeit agiert so in komplexen und offenen Situationen in der Verantwortlichkeit eines transparenten, verlässlichen, strukturierten und reflektierten Handelns.“

Das Konzept der Lebensweltorientierung ist sowohl ein Rahmenkonzept für die Theoriebildung Sozialer Arbeit als eine Orientierung in ihrer Praxis als auch eine Vorgabe für sozialpolitische Rahmenbedin-gungen. Das Konzept verbindet eine spezifische Sicht der Bestimmungsmerkmale der heutigen Lebensverhältnisse unserer Klienten mit den sich daraus ergebenden Konstruktionsprinzipien der Sozialen Arbeit. Dieses Konzept entwickelt Kriterien zur Kritik an Institutionen und Strukturen der heutigen Sozialen Arbeit. Daneben beschäftigt es sich mit entsprechenden Professionalisierungs-mustern und Entwürfen von institutionellen Arbeitsstrukturen, die den heutigen Lebensverhältnissen entsprechen (vgl. Grunwald/Thiersch, 2004, S. 13).

Der zentrale Anspruch von Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit:

Soziale Arbeit muss sich an der Lebenswelt der Klienten orientieren!

 
 4.1    Definitionen

 
Thiersch (2000, S. 5) schreibt:
„Lebensweltorientierung meint den Bezug auf die gegebenen Lebensverhältnisse der Adressaten, in denen Hilfe zur Lebensbewältigung praktiziert wird, meint den Bezug auf individuelle, soziale und politische Ressourcen, meint den Bezug auf soziale Netze und lokale/regionale Strukturen.“


Rauschenbach/Ortmann/Karsten (1993, S. 13) zitieren Hans Tiersch wie folgt:

„Lebensweltorientierung bedeutet demnach in der Sozialpädagogik:

Das Einlassen auf die eigensinnigen Erfahrungen der AdressatInnen Sozialer Arbeit; Lebenswelt-orientierung wirkt damit normalisierenden, disziplinierenden, stigmatisierenden und pathologisierenden Tendenzen der gesellschaftlichen Funktion Sozialer Arbeit entgegen.“

 
 4.2    Entwicklung der Lebensweltorientierung

Thiersch, H. (2000, Buchdeckel)
„Lebensweltorientierung oder Alltagsorientierung (bei Thiersch synonym verwendet), dieses Konzept bezeichnet die Richtung von Reformanstrengungen und meint den Bezug auf die Lebensverhältnisse der Adressaten, auf die sozialen und regionalen Strukturen und die Hilfe zur Lebensbewältigung.“

Thiersch sagt in seinem Beitrag „Strukturierte Offenheit“ (vgl. Rauschenbach/Ortmann/Karsten, 1993, S. 12), dass das Thematisieren von Lebenswelt und Lebensweltorientierung im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung vor allem in unserem Jahrhundert notwendig wurde. Die Soziale Arbeit war schon seit jeher lebensweltorientiert. Die Leitmaximen wie zum Beispiel „anfangen wo der Klient steht“, „Unterstützung in den gegebenen Verhältnissen“, „Hilfe zur Selbsthilfe“ zeigen dies deutlich. Die Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit war vor allem wichtig für randständige Menschen in schwierigen Situationen. Menschen, die mit sich selbst und ihrem sozialen Umfeld Probleme haben und damit der Gesellschaft Probleme verursachen. Mit dem Bestehen auf die Eigensinnigkeit lebensweltlicher Erfahrungen der Klienten wird dem normalisierenden, disziplinierenden, stigmati-sierenden und pathologisierenden Erwartungen der Gesellschaft an die Soziale Arbeit von jeher entgegengewirkt.

Ab den 60er Jahren erhielt die Lebensweltorientierung eine neue Bedeutsamkeit, als Gegenorien-tierung zu einer zunehmenden Institutionalisierung, Spezialisierung und Professionalisierung, die sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen zeigte, vor allem auch stark ausgeprägt in der Sozialen Arbeit. Während der Weiterentwicklung der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit konnte klar aufgezeigt werden, dass Lebenswelt ein strukturiertes Gefüge ganzheitlicher, räumlicher, zeitlicher und sozialer Bezüge ist. Lebenswelt verfügt durch das Ineinanderspiel von Pragmatismus und Routinen in Selbst-deutungs- und Handlungskonzepten über individuelle, soziale, politische, instrumentelle, regionale und lokale Ressourcen. „Diese strukturierte, erfahrene Welt ist in sich vielfältig gegliedert, im Verhältnis von Mitwelt und Umwelt oder im Verhältnis von Mikro-, Meso-, und Makrosystem, gegliedert also im Spiel von Innen und Aussen, Abgrenzung und Öffnung, im Spiel von Widerspruch, Kampf, Unter-stützung und Konsens zwischen den Deutungen, Bezügen und Räumen.“

In den 80er Jahren erhielt Lebensweltorientierung nochmals eine neue Bedeutung. Die überlieferten Strukturen verlieren immer mehr an Bedeutung und Verlässlichkeit. Dies im Zusammenhang mit der Pluralisierung von Lebenslagen, der Individualisierung der Lebensführung, dem Arbeitsverständnis, der Rollen von Mann, Frau und Heranwachsenden, den neuen Formen des Zusammenlebens, dem Verständnis von Normalität, Auffälligkeit und verbindlichen Normen.

In dieser veränderten und sich ständig ändernden Lebenswelt ist es für uns, wie auch für unsere Klienten immer schwieriger, eine verlässliche Normalität herzustellen. Geht die Verlässlichkeit eines erfahrenen Lebensraums verloren, muss sie wieder hergestellt werden in Bezug auf familiäre Ressourcen, mit der Gelegenheit zur Aneignung von Raum und Region und der Aktivierung und Organisation von sozialen Netzen.

„Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist so zugleich auf den Respekt vor dem Eigensinn gegebener lebensweltlicher Ressourcen verpflichtet und auf die Anstrengung, neue, tragfähige lebensweltliche Verhältnisse, neue Handlungs- und Verständigungsmuster – zu schaffen, also auf die Erkenntnis und die Ermutigung zum Ausbau und zu Inszenierung lebensweltlich tragfähiger Ressourcen.“ (vgl. Rauschenbach/Ortmann/Karsten, 1993, S. 12ff.)

Das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist gemäss Grundwald/Thiersch (2004, S. 17ff.) ein Zusammenspiel von vier unterschiedlichen Wissenschaftskonzepten, die miteinander verbunden sind. Dies sind:

-          Hermeneutisch-pragmatische Pädagogik

-          Phänomenologisch-interaktionistische Paradigma

-          Kritische Alltagstheorie

-          Analysen gesellschaftlicher Strukturen

 
Hermeneutisch-pragmatische Pädagogik

Bei der hermeneutisch-pragmatischen Pädagogik geht es um das Verstehen und das daraus bezogene Handeln. Durch die Rekonstruktion des Alltags- und Praxiswissens versucht sie Methoden des „höheren Verstehens“ zu entwickeln. Dabei soll das höhere Verstehen durch die Entlastung vom alltäglichen Handlungsdruck erreicht werden. Im Zentrum steht immer die bereits vorgefundene und vorinterpretierte Lebenswirklichkeit in ihrer historischen, kulturellen und sozialen Dimension. Diese Lebenswirklichkeit ist jedoch veränderbar.

 
Phänomenologisch-interaktionistische Paradigma

Hier geht es um die Rekonstruierung der Lebenswirklichkeit und der Handlungsmuster unter dem Gesichtspunkt der Alltäglichkeit. Dabei ist die Alltäglichkeit strukturiert durch die erlebte Zeit, den erlebten Raum und die erlebten sozialen Bezüge. Es wird versucht, pragmatisch Relevantes von Nicht-Relevanten zu unterscheiden. Interpretationen und Handlungen verschmelzen zu Alltagswissen und Routinen. Bei der Rekonstruktion der alltäglichen Lebenswelt werden die Menschen in ihren alltäg-lichen Verhältnissen gesehen, die sie prägen, die sie aber gleichzeitig auch aktiv mitgestalten und mitbestimmen können.

 
Kritische Alltagstheorie

Die kritische Alltagstheorie versucht, die Doppelbödigkeit von Gegebenen und Aufgegebenem, von Realität und Möglichkeit, in den Vordergrund zu rücken. Hier liegt das Bestreben darin, im Alltag gleichzeitig die möglichen Ressourcen zu sehen, Borniertheiten abzubauen und in ihnen auch unentdeckte und verborgene Gelegenheiten aufzuzeigen. Dadurch erreichen wir eine Produktivität in den Gegensätzen und Widersprüchen des Alltags, welche es uns ermöglichen, einen „gelingenden Alltag“ auszulösen.


Analysen gesellschaftlicher Strukturen

Bei den Analysen gesellschaftlicher Strukturen geht es um die Zusammenhänge von Strukturen und Erfahrungen in der Lebenswelt unserer Klienten. So geht es um Untersuchungen zu gesellschaftlichen und sozialen Gegebenheiten von Lebensmustern, wie zum Beispiel der Geschlechterrolle, der Migrationskulturen, der Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten.


Diese vier Zugänge bilden das theoretische Konzept zur Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit. Es nimmt seinen Ausgang in der Verbindung der Tradition der hermeneutisch-pragmatischen Erziehungswissenschaft mit den interaktionistischen Paradigma, reformuliert im Kontext der kritischen Alltagstheorie und bezogen auf Gesellschaftsanalysen zu Ungleichheiten und Offenheiten in unserer Zeit.


Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre erhält das Konzept der Lebenswelt-orientierung eine besondere Relevanz. Grosse Teile unserer Gesellschaft ist verunsichert durch zunehmende soziale Ungleichheiten und durch lebensweltlicher Erfahrungen in Deutungs- und Handlungsmustern, die durch die zunehmende Individualisierung der Lebensführung und der Viel-fältigkeit von Lebenslagen immer verwirrender wird. Es geht nicht nur um soziale Unterschiede in materiellen Ressourcen, sondern auch um Ungleichheiten bei der Zugehörigkeit zu Nationen, Generationen, Geschlecht ebenso wie das Teilhaben an Bildung, Arbeit, Gesundheitsförderung und sozialen Dienstleistungen. „Das Konzept der Lebensweltorientierung ist so ein Zugang, Soziale Gerechtigkeit in den neuen sozialpolitischen Aufgaben der Hilfe und Unterstützung in den heutigen lebensweltlichen Bedingungen zu realisieren“ (vgl. Grunwald/Thiersch, 2004, S. 14ff.).


Die Umstrukturierung der Jugendhilfe in den letzten 20 Jahren in Deutschland führte zu einem neuen Verständnis von Heimerziehung im Kontext von neuen alternativen Unterbringungsmöglichkeiten und stark ausgebauter Beratungshilfen. Dies stellen wir auch bei uns fest, es wurden und werden immer mehr ambulante Beratungsdienste und Lebenshilfen angeboten, welche immer näher zu den Klienten kommen, wie zum Beispiel die offene Jugendarbeit in Quartieren, die Schulsozialarbeit, Deutschlernen im Park für fremdsprachige Mütter, um nur einige zu nennen. 
 

4.3    Strukturmaximen einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
 

Thiersch (2000, S. 19)
„Jugendhilfe konfrontiert sich zu wenig damit, wie sich die Lebensverhältnisse in den heutigen Strukturen und in den Erfahrungen derer, mit denen sie arbeiten, darstellen.“

Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zeichnet sich durch folgende Strukturmaximen aus:

-          Alltagsnähe/-orientierung

-          Dezentralisierung/Regionalisierung/Vernetzung

-          Integration/Normalisierung

-          Partizipation

-          Prävention


Alltagsnähe/-orientierung

Meint die Präsenz von Hilfe in der Lebenswelt der Klienten, ebenso die Erreichbarkeit und Niedrig-schwelligkeit von Angeboten. Hier geht es um eine ganzheitliche Orientierung an Hilfen, die den verschiedenen Lebenswelten und Lebenserfahrungen der Klienten gerecht werden. Die Angebote sollen zum Beispiel einfach erreichbar sein, zu den Zeiten geöffnet haben, zu welchen die Klienten erscheinen können, sprachliche Hürden sollen kein Hindernis darstellen, das Gebäude oder die Räume sollten keine abschreckende Wirkung haben usw.


Dezentralisierung/Regionalisierung/Vernetzung

Diese Handlungsmaxime beruht auf die Alltagsnähe der Hilfen vor Ort. Es geht hier darum, dass die Soziale Arbeit in die regionalen und lokalen Strukturen eingebunden sind und trotz zentraler Qualitätsvorgaben über eine hohe Autonomie vor Ort verfügen. So soll zum Beispiel ein Amt nicht zentral für die ganze Stadt an einem Ort sein, sondern die zuständigen Mitarbeiter sollen ihren Standort im jeweiligen Quartier beziehen. Dies ist leider aus Kostengründen oftmals nicht realisierbar. Ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung ist hier die Schulsozialarbeit, die in den letzen Jahren stetig ausgebaut wurde.

Die Angebote sollen vernetzt sein. Die einzelnen Anbieter müssen voneinander wissen und gegen-seitig ihre Angebote kennen und gegebenenfalls aufeinander abstimmen.


Integration/Normalisierung

Bei der Integration geht es darum, den Klienten nicht durch Isolation auszugrenzen und dafür zu sorgen, dass allen die gleichen Grundansprüche zugestanden werden. Das Recht auf Verschiedenheit muss gewahrt werden. Toleranz ist gefragt. Die Angebote sollen für alle zugänglich sein. Gerade in der heutigen Zeit, in welcher immer mehr Menschen mit dem Alltag überfordert sind, geht es darum, gezielte kompensatorische Massnahmen anzubieten, welche die Klienten nicht stigmatisieren. Ein Beispiel kann sein, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten nicht in einer Kleinklasse zusammengefasst werden, sondern in der Regelklasse bleiben können mit zusätzlicher fachlicher Unterstützung der Lehrperson. Als Normalisierung kann zum Beispiel das Anerkennen von veränderten Lebensverhält-nissen bezeichnet werden, wie den Eineltern-Familien oder die steigende Langzeit- und Jugend-arbeitslosigkeit.


Partizipation

Die Partizipation, das Mitspracherecht des Klienten, das Aushandeln mit ihm, ist ein gewichtiger Punkt bei der Umsetzung des Lebensweltorientierten Ansatzes. Hier geht es um Freiwilligkeit und Mitbestimmung. Die Ziele werden gemeinsam mit dem Klienten ausgearbeitet, eine soziale Diagnose wird gemeinsam mit ihm erstellt. Es soll eine Kooperation der Beteiligen entstehen, welche tragfähige Lösungen gemeinsam erarbeiten. Wir reden nicht „über“ den Klienten sondern wir reden „mit“ dem Klienten. Allerdings benötigt Partizipation mehr Zeit als Verordnungen, da ausgehandelt werden muss.


Prävention

Die allgemeine Prävention zielt auf die Stabilisierung und Herstellung von belastbaren und unter-stützenden Infrastrukturen und auf die Bildung und Festigung von Fähigkeiten des Klienten, sich neue Kompetenzen anzueignen, um eine erfolgreiche Lebensbewältigung zu erreichen. Gleichzeitig geht es darum, gerechte Lebensverhältnisse zu schaffen und eine gute Erziehung zu ermöglichen.

Die Prävention soll die Ressourcen der Klienten stärken und Situationen, die sich zu Krisen ent-wickeln können, vorbeugen. Die unterstützenden und begleitenden Massnahmen für den Klienten sollen möglichst früh einsetzten, damit eine weitere Kumulation der Probleme verhindert werden kann. Die ambulanten Hilfs- und Unterstützungsangebote sollen ausgebaut und stationäre Angebote abgebaut werden.

Um diese Vorhaben umzusetzen, ist es von grosser Bedeutung, dass sozial Arbeitende in Planungs-vorhaben der Gemeinden und Städte miteinbezogen werden um die Sozialverträglichkeit von Neuerung zu gewährleisten.

Hier geht es zum Beispiel darum, dass nach alternativen Unterbringungs-möglichkeiten gesucht wird, ambulante Beratungs- und Hilfsangebote erweitert werden usw.. Bei einer erfolgreichen Präventions-arbeit können viele Familien mit ihren Kindern und Jugendlichen von den Hilfsangeboten in ihrem Lebensfeld profitieren und die Hürde für eine Heimplatzierung wird dadurch massiv erhöht.

Diese Maximen dienen zur Strukturierung der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Sie sind sicherlich nicht ausgeschöpft und dienen zur Orientierung für notwendige weitergehende Entwick-lungen. Allen Handlungsmaximen ist gemeinsam, dass sie sozialpolitisch vertreten werden müssen und dies vor allem durch uns Sozial Arbeitende, den Fachkräften. Wir sollten in sozialpolitische Entscheidungen mit eingebunden werden, um die Sozialverträglichkeit der Veränderungen zu prüfen (vgl. Grunwald/Thiersch, 2004, S. 26ff.).


4.4    Anforderungen an den Sozialpädagogen


Thiersch (2000, S. 46)
„Will ich den anderen in dessen Alltäglichkeit verstehen, muss ich aus meiner Alltäglichkeit aus-brechen.“

Im erziehenden Umgang mit unseren Klienten setzt das lebensweltorientierte Handeln auf Beratung, Begleitung und Kooperation. Wir orientieren uns an der Problemsicht der Klienten in ihrem Lebensfeld und versuchen den ganzheitlichen Zusammenhang von Problemverständnis und Lösungsressourcen zu erkennen und die verfügbaren Kompetenzen und Ressourcen ihrer Lebenswelt zu nutzen.

Generelle Muster sind heute in den offenen, brüchigen gesellschaftlichen Strukturen viel weniger wert als das Aushandeln von individuellen Lösungen in schwierigen Situationen unserer Klienten.

Damit wir in unserem Alltag Lebensweltorientierung umsetzen können, sollten wir uns bewusst machen, welche Fähigkeiten wir haben und welche von Vorteil wären. Gemäss Rauschenbach/ Ortmann/Karsten (1993, S. 23) sollten wir folgende Kompetenzen besitzen oder erwerben:

-          Präsenz zu zeigen, sich den Verhältnissen aussetzen

-          gegebene Verhältnisse versuchen zu verstehen

-          Vertrauen zu stiften und dieses aufrecht erhalten zu können

-          Vermittlung in Konflikten und Schwierigkeiten

-          Phantasie; in gegebenen Schwierigkeiten Alternativen zu entwickeln

-          Verhältnisse strukturieren können und längerfristige Arbeitskonzepte durchhalten

-          zu planen, organisieren und managen

Dieses Handlungsprofil ist nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern auch überfordernd. Wir als Sozial-arbeitende setzen uns nicht nur unserem Weltverständnis aus, sondern sollen uns auch der anderen Lebenswelt der Klienten aussetzen. Dies ist eine sehr schwierige Aufgabe, vor allem dann, wenn wir als Beispiel die Arbeit mit Rechtsextremen oder mit Drogenabhängigen nehmen. Es kann durchaus zu Situationen kommen, in denen der sozial Arbeitende verführt wird, seine Rolle aufzugeben und zum Beispiel in der Jugendarbeit eher als Jugendlicher unter Jugendlichen zu sein oder sogar im Gegenteil kann es zu einem starren Rückzug auf die eigene Orientierung kommen.

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist aber auch für die Klienten bedrohlich. Mit diesem Ansatz der Sozialen Arbeit rücken wir unseren Klienten zu Leibe, wir tauchen in ihre Lebenswelt ein, sind in ihrer Nachbarschaft, in der Schule, im Quartier, im Jugendhaus, ja auch in ihrer Familie je nach Niedrig-schwelligkeit und Offenheit des Angebots. Im Vergleich zur Beratung auf einem Amt geht die ab-sichernde Distanz zwischen sozial Arbeitenden und den Klienten verloren.

Rauschenbach/Ortmann/Karsten (1993, S. 23) sagen dazu: „Es braucht Takt, als die Fähigkeit, sich in den eigenen Möglichkeiten zurückzuhalten, andere Möglichkeiten zu sehen und in ihrem Eigensinn zu respektieren.“

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Klärung des Arbeitsverhältnisses durch vertragsförmige Ab-sprachen und den Miteinbezug von Reflexion und Selbstreflexion in die Arbeit. „Sozialpädagogisches Handeln steht – im Zeichen der Lebensweltorientierung – immer in Gefahr, in die Strukturen der Lebenswelt, des Alltags hineingezogen zu werden und so Distanz und Kompetenz, die Voraus-setzungen für klärende, strukturierende und alternative Problemlösungen, zu verlieren.“

Die Vielfältigkeit unserer Arbeit mit ihren unzähligen Aufgaben und Problemen, der Erledigungsdruck und die Aufregung kann uns gerade in schwierigen Verhältnissen ins Chaos führen. Wir als sozial Arbeitende geraten in Gefahr nur noch im Alltag mitzuschwimmen. Unsere Präsenz im Alltag wird geprägt von Projektionen, Erwartungen, von Übertragungen und Gegenübertragungen gegenüber unseren Klienten. Um dies zu vermeiden, ist es wichtig, unsere Arbeit vertragsförmig zu praktizieren. Es soll Transparenz geschaffen werden in Bezug auf die wechselseitigen Erwartungen, „was wer von wem mit welchen Mitteln erwarten kann und darf.“  

Es soll nicht verschwiegen werden, dass es sehr schwierig und zeitaufwendig ist, zu vertragsförmigen Abmachungen mit Klienten zu kommen. Dies ist allerdings bereits ein gutes Stück des Weges zur Lösung und Bewältigung von schwierigen Situationen.

Zur vertragsförmigen Klärung gehört auch die Reflexion/Selbstreflexion. Dies kann in ganz unter-schiedlichen Formen stattfinden, wie zum Beispiel Austausch im Team, gemeinsame Formen von Praxisberatung, Praxisbesprechung, Supervision, aber auch in Form von Selbstevaluation. Dabei gilt, dass Reflexion der Arbeit zielgerichtet sein soll und oft wiederum vertragsmässig ausgehandelt werden muss. Im Zeichen einer lebensweltorientierten, ganzheitlichen Arbeit muss die Reflexion eingebunden sein in das jeweils gültige Arbeitskonzept. Die Selbstevaluation wird zunehmend interessanter für uns sozial Arbeitende, da sie die Möglichkeit bietet, unsere Arbeit während des Prozesses zu prüfen und damit im Prozess korrigierbar zu machen (vlg. Rauschenbach/Ortmann/Karsten, 1993, S. 23ff.).


4.5    Dimensionen der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit kann gemäss Grunwald/Thiersch (2004, S. 32ff.) in vier Dimensionen eingeteilt werden. Diese sind:

-          Dimension der erfahrenen Zeit

-          Dimension des Raumes

-          Dimension der sozialen Bezüge

-          Dimension der Hilfe zur Selbsthilfe


Dimension der erfahrenen Zeit

Mit der erfahren Zeit sind die Strukturen der Zeit im Lebenslauf des Klienten gemeint, wie die verschiedenen Lebensphasen mit ihren unterschiedlichen Bewältigungsaufgaben und Kompetenzen. Die Lebensweltorientierung richtet sich an der Gegenwart aus, wie zum Beispiel der Gleichaltrigen-kultur und den sich daraus ergebenden Bewältigungsaufgaben. Gleichzeitig versucht Lebenswelt-orientierte Soziale Arbeit die Kompetenzen seiner Klienten so zu stärken, dass sie einer riskanten Zukunft gewachsen sind.


Dimension des Raums

Die Dimension des Raums soll den Menschen in seinen räumlichen Verhältnissen, wie zum Beispiel in ländlichen Strukturen, städtischen Milieus, auf der Strasse und in Spannungen und Auseinander-setzungen zwischen den Territorien sehen. Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit setzt ein elemen-tares Recht auf einen eigenen, verlässlichen und individuell gestaltbaren Lebensraum für unsere Klienten voraus. Sie besteht aus Einrichtungen, wie zum Beispiel Jugendhäuser, aber auch auf den Ausbau von ambulanten Hilfen, damit die Menschen in ihren vertrauten Wohnverhältnissen mit diesen Hilfen zurecht kommen.


Dimension der sozialen Bezüge

Diese Dimension sieht den Menschen in den Ressourcen und Spannungen seines sozialen Umfeldes. Hier geht es um das Geflecht von Familien, Freundschaften und Bekannten. In der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen geht es darum, die Komplexität des sozialen Netzes zu erkennen und sich nicht nur auf die klassischen Lebensorte von Familie und Schule zu konzentrieren, sondern auch auf die Unterschiedlichkeiten der sozialen Erfahrungen, wie zum Beispiel in Peergruppen und Jugend-häusern, einzugehen. Es geht darum, dass wir unseren Klienten eine verlässliche und belastbare Beziehung anbieten, nachdem sie oftmals verletzende Erfahrungen von Unzuverlässigkeit und Verstossenwerden erfahren haben.


Dimension der Hilfe zur Selbsthilfe

Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit setzt auf die Hilfe zur Selbsthilfe. Sie sieht die Menschen in ihren Stärken, die sie aus den schwierigen Situationen in ihrer Lebenswelt erlangt haben. Die Kompe-tenz zur Lebensbewältigung zielt auf eine Sicherheit im Lebenskonzept, bei welchem sich der Klient dem Risiko im offenen Rahmen stellt und sich gegen Ressentiment, Verzweiflung oder Flucht in Gewalt und Sucht behauptet.


4.6    Grenzen einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Die Grenzen der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit sehe ich in zwei Gruppen aufgeteilt:

-          persönliche Grenzen

-          politische Grenzen


Persönliche Grenzen

Ich bin der Meinung, dass wir dazu neigen, uns vollumfänglich um unsere Klienten zu kümmern. Dabei vergessen wir gerne, dass es auch noch andere Disziplinen gibt, für welche wir nicht zuständig sind, so zum Beispiel die Steuer-, Umwelt-, Wohnungsbaupolitik, die Medizin und die Justiz. Es geht darum, dass wir uns selbst nicht zu viel auferlegen und uns damit überfordern. Wir müssen unsere persönlichen Ressourcen gezielt einsetzten.

Auch beim Verstehen der Lebenswelt des Klienten gibt es Grenzen, wir dürfen unseren eigenen Standpunkt nicht aufgeben und den Blick fürs wesentliche nicht verlieren. Auch unser Einfühlungs-vermögen stösst einmal an seine Grenzen. Wir sind da zum Unterstützen und Coachen, was aber die Klienten daraus machen liegt nicht in unserer Verantwortung.


Politisch Grenzen

Mit politischen Grenzen meine ich vor allem die knappen finanziellen Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Daraus ergibt sich eine Knappheit an Ressourcen, wie Personal, Raum und Zeit. Dieser Umstand kann eine Verschleppung und Kumulierung der Probleme unserer Klienten zur Folge haben, welche zu einem späteren Zeitpunkt weitaus mehr Ressourcen benötigen, um rückgängig gemacht zu werden.


4.7    Kritische Ansichten zur Heimerziehung
 

Thiersch (2000, S. 27/28)
„Erziehung, die den Heranwachsenden auf Entwicklungsziele orientiert, Fürsorglichkeit, die weiss, was dem anderen fehlt, Verantwortung, die in Kompetenz und gutem Gewissen für den anderen handelt, werden fragwürdig.“

In den folgenden Abschnitten möchte ich den Blick auf mein jetziges und künftiges Arbeitsgebiet mit Jugendlichen richten.

Was will Heimerziehung erreichen? Chassé/Wensierski (1999, S. 168) beschreiben dies so: „Heimerziehung will Kindern und Jugendlichen, die aufgrund individueller, familialer und gesellschaft-licher Problemlagen in ihrem derzeitigen Lebensort überfordert oder auch gefährdet erscheinen, vor-übergehend oder auf Dauer einen professionell strukturierten und pädagogisch gestalteten Lebensort bieten, der Entlastung und kompensierendes Lernen ermöglichen soll.“

Dazu gibt es folgende vier Zielsetzungen:

-  Schaffung von Distanz und Entlastung des Klienten von Aufgaben und Beziehungen, an denen er gescheitert ist

-  Aufbau eines belastbaren und individuellen Lebensraumes für den Klienten, gegebenenfalls unter Einbezug therapeutischer Hilfen

-  Errichtung stabiler, verlässlicher und belastbarer Beziehung zu Erwachsenen

-  Bildung von attraktiven Lernfeldern und lohnenden Zukunftsaussichten

Der pädagogische Anspruch der Heimerziehung und die Wirklichkeit im Alltag klaffen da allerdings oftmals weit auseinander. Genau dort ist der Ansatzpunkt für die Kritik an der Heimerziehung. Die Kinder und Jugendlichen werden durch die Heimplatzierung aus ihrer Lebenswelt, ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und verlieren dadurch wichtige Bindungen. Ein Abbruch wichtiger sozialer Beziehungen und Bindungen, wie zu Schulkameraden, Nachbarn, Verwandten, Vereinen usw. ist häufig nicht nötig, jedoch durch die geographische Lage des Heims unumgänglich. Die oftmals von totaler Versorgung geprägten Strukturen der Heime können zu weiteren Beeinträchtigungen der Klienten, wie zum Beispiel Diskontinuität von Beziehungen und Anonymität führen. Die Stigmati-sierung durch die soziale und regionale Isolierung der Heime kann die spätere Wiedereingliederung  der Klienten in deren Lebenswelt erschweren.

In grossen Einrichtungen können sich neben der Arbeitsteilung unter den Angestellten auch die dif-ferenzierten Hierarchien nachteilig auf die Arbeit mit den Klienten auswirken. Die Pädagogen stehen meist auf der untersten Hierarchiestufe und haben nur eingeschränkten Einfluss zum Beispiel auf die Alltagsgestaltung, Regeln und Belegungsentscheidungen.  Die Verwaltungsstrukturen dominieren oft gegenüber pädagogischen Ansprüchen, was wiederum problematisch gegenüber der Erziehung der Klienten ist.

Von der Organisationsform der Betreuung her kann die Heimerziehung in der Regel kaum in ge-wünschter Weise auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendliche in der Entwicklung zwischen-menschlicher Beziehungen (Verlässlichkeit und Kontinuität) eingehen.

Routinemässige, disziplinierende und standardisierte Bearbeitungsprozesse der Probleme von Klienten sind veraltet und dysfunktional, sie gehen nicht auf die Bedürfnisse der Klienten ein (vgl. Chassé/Wensierski, 1999, S. 168ff.).


4.8           Lebensweltorientierung im sozialpädagogischen stationären Bereich

Thiersch (2000, S. 103)
Thiersch fordert eine Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, „die belebt ist durch den Respekt vor den Ressourcen der Kinder und Jugendlichen und deren Familien.

Diese Arbeit sollte bestimmt sein durch Wissen, Selbstkritik, ja durch Angst vor der in aller Professionalität liegenden Verführung zu einer expertenhaften einseitigen Problemdefinition und Handlungsvorgabe.“

So wie die Heimerziehung bis in die 70er Jahre hinein konzipiert war, konnte sie weder die Selbständigkeit noch die Integration nach Abschluss der Massnahme von „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen gewährleisten. Ja, sie war sogar an der Produktion problematischer Karrieren und nachhaltiger Ausgrenzungsprozesse beteiligt. Bis vor wenigen Jahren konnte noch davon ausge-gangen werden, dass mit dem Zusammenwirken von Familie, Schule und Nachbarschaft, bzw. Gemeinwesen eine gelingende Sozialisation von Kindern und Jugendlichen gelingen werde. Doch angesichts der schnell veränderten Lebenssituationen durch gestiegene Mobilität, höherer Dauer-arbeitslosigkeit, der Vermehrung von Stiefeltern, Ein-Eltern- und Ein-Kind-Familien konnte das System der Familie ihre vorgesehene Funktion nicht mehr alleine erfüllen. Es braucht vermehrt Hilfe von Aussen, dies wird je länger je mehr zum Normalfall (vgl. Grunwald/Thiersch, 2004, S. 140).

Wenden wir die allgemeinen Maximen der Lebensweltorientierung wie Dezentralisierung, Regio-nalisierung, Prävention, Normalisierung, Alltagsorientierung und Integration in der Praxis in verschie-denen Institutionen mit ihren Leistungsangeboten, Arbeitsaufgaben und Handlungsprofielen an, können wir das in der allgemeinen Orientierung liegende provokative Potenzial verdeutlichen.

Lebensweltorientierung kann dann folgendes bedeuten:

-  die Gestaltungsweise der sozialpädagogischen Leistungen als Ganzes lebensweltorientiert gewichtet und umstrukturiert wird

-  die verschiedenen Institutionen ihren Arbeitsmöglichkeiten entsprechend spezifische Aspekte der Lebensweltorientierung umsetzen

-   die Vielfalt der Kooperationen institutionalisiert wird

Hier geht es vor allem um Neuorientierung. Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, die mit Schwierigkeiten und Hilflosigkeit dauerhaft konfrontiert sind,  brauchen neue, alternative Lebensräume, in denen sie sich frei von belastenden Verhältnissen neu orientieren können, wie zum Beispiel Pflege-familien, Wohngruppen, therapeutische Wohngruppen, spezielle Einrichtungen.

Das Aufgabenfeld der Heimerziehung verschiebt sich zu regionalen Angeboten im Lebensfeld der Jugendlichen, dorthin, wo sie ihre Schwierigkeiten haben. Dabei bleibt zentral, dass die Strukturierung der Lebensmöglichkeiten für sie in einem alternativen Raum stattfindet, der sie vor den bisherigen Zwängen entlastet. Dadurch können die Jugendlichen neue Beziehungen, Perspektiven und Verläss-lichkeiten erleben. Der gestaltete Lebensraum in einem Heim ist eine zentrale und anspruchsvolle Aufgabe. Diese umfasst das Organisieren von dezentralen, überschaubaren Gruppen als Wohnmög-lichkeit, welche möglichst autonom ihr Leben gestalten und bestimmen können. Es sollen Einrich-tungen entstehen, „die aus der Eigenwelt des abgehobenen Heimlebens in den - gemeinen Alltag – zurückführen können“, wie zum Beispiel dezentrale Wohngruppen im Lebensfeld des Klienten und Angebote einer Nachbetreuung bei begonnener Selbständigkeit (vgl. Rauschenbach/Ortmann/Karsten, 1993, S. 17).
 

4.9    Lebensweltorientierung und Merkmale von Heimerziehung

Grunwald/Thiersch, 2004, S. 28
„Heimerziehung sucht, trotz ihrer funktionsbestimmten institutionellen Grenzen ebenso Geborgenheit und Attraktivität zu realisieren, wie sie Elternarbeit und die Öffnung in den Sozialraum ihrer Umgebung praktiziert.“

Die Merkmale Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit erkennt man gemäss Grunwald/Thiersch (2004, S. 142ff.) wie folgt:

– Wir verstehen die Probleme der Klienten als Probleme der Lebensbewältigung und nicht als Krankheit oder Sozialisationsdefizit. Damit erreichen wir eine tendenziell stärkere Ausrichtung an der Problemdefinition unserer Klienten und weniger eine Orientierung an den Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft.

– Die lebensweltorientierten Ansätze sollen sich durch die räumliche Nähe zum Entstehungsort der Probleme und dem Vorhandensein gemeinsamer Bezugspunkte von Klienten und uns Pädagogen auszeichnen. Dabei bedeutet räumliche Nähe alleine noch nicht lebensweltorientiert.

– Die lebensweltorientierten Konzepte beziehen sich auf den Alltag des Klienten und bedienen sich der Ressourcen der einzelnen Person und dessen Lebensfeld zur Problemlösung. Im Idealfall bieten sie damit Hilfe zur Selbsthilfe. Damit unterscheiden sie sich von therapeutischen Ansätzen.

– In der lebensweltorientierten Jugendhilfe wird versucht, fehlerfreundlich zu arbeiten, dies bedeutet, dass Hilfe so angelegt ist, dass falsche Vermutungen oder gescheiterte Hilfeversuche möglichst geringe Nebenwirkungen haben.  Ein Wechsel der Wohnsituation soll möglichst wenig Auswirkungen wie zum Beispiel einen Schulwechsel oder die Aufgabe von Freundschaften nach sich ziehen.

– Im Gegensatz zur Spezialisierung von Angeboten und Zentralisierung dieser, ist bei der Lebenswelt-orientierung die Vernetzung kennzeichnend.

Die Verwirklichung der Lebensweltorientierten Sozialpädagogik in der Heimerziehung steht oftmals im Dilemma mit den vorgegebenen, zum Teil starren Strukturen und inneren Zwängen, den diszipli-nierenden und kontrollierenden Vorgaben, dem Verwaltungshandeln und auch immer stärker den ökonomischen Legitimationszwängen.

In Bezug auf Heimerziehung sagen Grundwald/Tiersch (2004, S. 142): „Gruppen erhalten leicht den Charakter von Zwangsgemeinschaften, die Künstlichkeit der Lebenswelt und die institutionell gesetz-ten Merkmale erschweren es, sich an den Jugendlichen und ihren biographischen Erfahrungen zu orientieren.“

Auf der anderen Seite gibt es Einrichtungen, in denen milieunahe Heimerziehung praktiziert wird. In diesen Rahmen ist das Umfeld ganz nah mit der Heimerziehung verbunden. Die Trennungslinien zwischen stationärer, teilstationärer und ambulanter Hilfe sind nicht stur gezogen. Die Struktur-maximen Alltagsorientierung, Normalisierung und Integration werden in Lebensgemeinschaften und familienähnlichen Arrangements umgesetzt. Dezentralisierung und Regionalisierung der Angebote  sind zur Selbstverständlichkeit geworden (vgl. Grunwald/Thiersch, 2004, S. 142ff.).

In der heutigen Zeit sollte Heimerziehung auch ermöglichen, dass Jugendliche ein mehr oder weniger selbstständiges Leben in einer angemieteten Wohnung entweder mit einer sozialpädagogischen ambulanten Betreuung oder im Zusammenleben mit dem Betreuer erhalten.

Neben vielen theoretischen Kenntnissen von uns Pädagogen wie zum Beispiel der Entwicklungs-psychologie, der Sozialisationstheorie, dem Zusammenhang von Lebenserfahrung und Identität von Kindern und Jugendlichen, sind auch ein hohes Mass an sozialer Phantasie und selbstkritischer Reflexion unsererseits gefragt. Handlungskompetenzen wie Rollendistanz, die Fähigkeit, wider-sprüchliche Bedürfnisse auszuhalten, so wie Empathie machen es uns Pädagogen möglich, Sozialisationsbedingungen zu schaffen, welche ein sinnvolles Lernen für unsere Klienten zulassen.

Wie in der Sozialen Arbeit kann die Professionalisierung in der Heimerziehung nicht nur in der Form von Handlungswissen und Handlungskompetenz ausgeführt werden. Die Arbeit des Pädagogen besteht vor allem auch darin ein pädagogisches Milieu zu strukturieren und zu gestalten. Dies baut  auf nicht verletzende, entlastende, beschützende, entwicklungsfördernde und bildende Umwelten und Alltagsstrukturen. Das fundamentale methodische Prinzip von Heimerziehung liegt in der Bereit-stellung und Gestaltung des Ortes, an welchem die Kinder und Jugendlichen leben. Sie sollen dabei die Hilfe erhalten, die besonders auf ihre persönlichen und individuellen Schwierigkeiten zielen.

Bei einer Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen sollte darauf geachtet werden, dass die Lebensbedingungen so gestaltet sind, dass der Versorgungscharakter der traditionellen Heimer-ziehung vermindert wird und an deren Stelle eine zwischen Klienten und Pädagogen kooperativ ausgehandelte Selbstorganisation des Alltags tritt. Dies bedeutet, dass Kinder und Jugendliche an der Gestaltung und Herstellung ihres Lebensraums beteiligt werden. Sie sollten ihre sozialen Beziehungen selber regeln und bestimmen können (vgl. Chassé/Wensierski, 1999, S. 174).